Eine Fallgeschichte
Traurig, aber leider alltäglich
Eine junge Frau* ruft zum ersten Mal bei uns an. Zu Beginn des Telefongesprächs fällt es ihr schwer, zusammenhängende Sätze zu formulieren. Häufig stockt sie oder verhaspelt sich. Offensichtlich hat sie Schwierigkeiten, überhaupt dieses Gespräch zu führen und um Unterstützung zu bitten. Die Telefonberaterin ermutigt sie zunächst, sich Zeit zu lassen. Sie sagt ihr, dass es völlig normal und in Ordnung sei, wenn ihr das Sprechen schwer falle. Sie müsse auch nicht sofort auf den Punkt kommen und ein durchdachtes Anliegen formulieren. Vielleicht sei es einfacher, erst mal kurz über sich und ihre aktuelle Lebenssituation zu sprechen.
Die Anruferin entspannt sich dadurch zunehmend und berichtet, dass sie gerade 18 Jahre alt geworden ist und seit vier Jahren in einer Jugendwohnung lebt. Jetzt sei sie so weit, dass sie in eigenen Wohnraum umziehen könne. Sie wird dabei gut unterstützt durch eine Betreuerin der Jugendwohnung. Durch die Unterstützung konnte sie recht schnell eine kleine geeignete Wohnung finden, die ihr gut gefalle. Der Mietvertrag stehe kurz vor dem Abschluss, die Finanzierung sei gesichert.
Am Tag vor ihrem Anruf bei uns sei sie das erste Mal alleine in der Wohnung gewesen, um mit dem Hausmeister noch einige Dinge zu klären. An dieser Stelle stockt der Bericht der jungen Frau* wieder und sie sucht nach Worten. Die Beraterin lässt ihr geduldig Zeit und weist darauf hin, dass sie gut nachvollziehen könne, wie schwer es der Anruferin fällt, zu erzählen. Die junge Frau* erklärt, dass sie unbedingt davon berichten möchte, was geschehen ist, aber dass sie vieles davon noch nicht richtig in Worte fassen könne und vor allem ein unangenehmes Gefühl im Vordergrund stehe.
Die Beraterin erklärt der jungen Frau*, dass es völlig richtig ist, sich auf innere Gefühle zu verlassen, auch wenn ansonsten noch nicht alles verstehbar ist. Nach einer Weile erzählt die junge Frau* leise, dass der Hausmeister sie zunächst auf eine ›unangenehme‹ Art und Weise angestarrt habe. Er habe sie geduzt und sich im Gespräch unangemessen vertraulich verhalten, so »als ob wir uns schon lange kennen würden«. Er sei ganz offensichtlich erfreut gewesen, dass sie allein gekommen war. Im Laufe des Zusammentreffens habe er ihr alle möglichen Privilegien angeboten, die anderen Mieter*innen nicht zur Verfügung stünden. Die junge Frau* habe sich zunehmend unwohl gefühlt und wollte schnell wieder gehen. Das habe er durch immer neue komplizierte Beschreibungen irgendwelcher unwichtiger Dinge verhindert, obwohl alle unklaren Punkte, wegen derer sie zu der Wohnung gekommen war, längst abgearbeitet waren. Sie sei nicht in der Lage gewesen, das Gespräch zu unterbrechen und zu gehen. Am Ende habe er geäußert, dass er sich freue, dass so eine junge und hübsche Mieterin einziehen werde. Er habe sie am Arm berührt und dann, wie zufällig, auch an der Brust. Sie wisse allerdings nicht, ob das wirklich Absicht gewesen sei. Jetzt fühle sie sich schlecht, vor allem weil sie sich nicht genug gewehrt habe. Sie überlege ernsthaft, ob sie überhaupt in die Wohnung einziehen sollte. Schließlich würde sie ihm dann häufiger begegnen.
Die Beraterin betont, dass es gut war, sich an eine Beratungsstelle zu wenden und damit ihr ungutes Gefühl ernst zu nehmen. Gemeinsam entwickelt sich ein Gespräch über die widerstreitenden Gefühle, die die Ratsuchende spürt und die sie sortieren muss: Gefühle von Ekel, von Angst, das Gefühl, bedroht zu werden, von möglicher Unsicherheit in der zukünftigen Wohnung, von Freiheitseinschränkung, aber auch zunehmend das Gefühl von Wut und Ärger, gepaart mit einer Trotzreaktion im Sinne von »jetzt erst recht«!
Nach einer Weile wird deutlich, dass die junge Frau* es überhaupt nicht einsehen könnte, wenn sie wegen eines schmierigen Hausmeisters auf die Wohnung verzichten würde. Der Wohnungsmarkt ist angespannt, es gibt nicht viele Angebote, die sie sich in ihrer Situation finanziell leisten kann. Ihr wird zunehmend klar, dass es keine Option für sie ist, auf die Wohnung zu verzichten. Das würde sich wie eine Niederlage bzw. wie eine Flucht anfühlen.
Danach konzentriert sich das Gespräch auf die konkreten Möglichkeiten, die die junge Frau hat, um sich gegen den Hausmeister abzugrenzen. Die Betreuerin aus der jetzigen Jugendwohnung ist eine starke Ressource und hat auch schon angekündigt, die junge Frau* zu unterstützen. Die junge Frau* möchte sich aber auch nicht vollständig auf die Betreuerin verlassen, sondern selbstständig aktiv werden. Die Telefonberaterin und die junge Frau* erörtern verschiedene Möglichkeiten, wie die junge Frau* dem Hausmeister unmissverständlich und nachhaltig ihre Grenzen signalisieren könnte. Gleichzeitig ermutigt die Beraterin die junge Frau*, Hilfe anzunehmen und die Verantwortung nicht ganz allein tragen zu müssen.
Am Ende entscheidet sich die Anruferin dafür, sich gemeinsam mit ihrer Betreuerin bei der Hausverwaltung zu beschweren. Gleichzeitig will sie daran arbeiten, beim nächsten Zusammentreffen mit dem Hausmeister früher Grenzen zu setzen, bzw. kein Gespräch aufkommen zu lassen. Sie will dafür sorgen, dass sie nicht mit dem Hausmeister alleine Termine wahrnehmen muss.
Wichtig war für die Ratsuchende, von außen, d.h. durch die Telefonberaterin, eine Bestätigung zu bekommen, dass sie sich das ungute Gefühl nicht einbildet und dass sie ein Recht darauf hat, sich zu wehren. Mit dieser Sicherheit, ein Recht auf Grenzen zu haben, konnte sie die weiteren Schritte gut planen und machte sich auch wenig Sorgen um die tatsächliche Umsetzung.